01.02.23

Blogbeitrag Ralf_Februar

Die Bedeutung des Lesens - werden wir der Herausforderung wirklich gerecht?

In der Gesellschaft und in den Medien wird Lesen stets als wichtig, wenn nicht gar sehr wichtig, angesehen. Kaum jemand zweifelt die Bedeutung von Büchern und ihrem Verständnis heutzutage noch an. Die Frage, die ich mir stelle, ist aber: Verstehen wir wirklich, wie wichtig das Lesen ist?

 

Ich sprach mit Adriaan van der Weel, Professor für Buchkultur in den Niederlanden und Autor des Buches De Lezende Mens, ein Buch über die Bedeutung des Lesens in unserer heutigen Kultur.

Anmerkung: Das Buch De Lezende Mens ist aktuell leider noch nicht auf Deutsch verfügbar

 

In Ihrem Buch sprechen Sie von einer Lesekrise. Bitte erklären Sie das. Beziehen Sie sich auf die steigenden Zahlen der geringen Lese- und Schreibfähigkeit?

Nicht unbedingt. Die Themen Sprachverzögerungen und geringe Lesekompetenz sind zwar jeden Tag in den Nachrichten, sie verstellen aber den Blick auf ein größeres Problem: dass wir das Lesen zu sehr als eine funktionale Angelegenheit betrachten. Tatsächlich zeigen die Zahlen, dass das Leseniveau bei einem Viertel der Bevölkerung geringer ist als erforderlich wäre. Aber ich kann Ihnen auch sagen: Ein viel größerer Teil der Bevölkerung liest sehr wenig, einfach weil es ihnen an Motivation fehlt. Das Interesse am Lesen nimmt an breiter Front ab. Dies ist mindestens ebenso besorgniserregend wie die Probleme beim Leseniveau.

 

Warum ist das Lesen von Büchern Ihrer Meinung nach so wichtig?

Unsere Gesellschaft ist auf Büchern aufgebaut. Es ist erwiesen: Je mehr Bücher es in einer Gesellschaft gibt, desto größer ist der sozioökonomische Wohlstand. Die Buchkultur brachte uns die Renaissance, die wissenschaftliche Revolution, die Reformation und so weiter. Diese Buchkultur hat die Gesellschaft stark geprägt. Aber wir entfernen uns immer mehr davon. Das Buch rückt in der Alltagsperspektive immer mehr in den Hintergrund und durch die neuen Medien haben wir immer weniger Zeit für Bücher.

 

Warum ist das schade?

Wir betrachten das Lesen von Büchern immer noch als den "Goldstandard" des Lesens. Bücher sind lange, komplexe Texte. Diese Komplexität ist die eigentliche Lektüre. Die Lektüre, durch die man die Fähigkeit zu denken entwickelt, durch die man kognitive Geduld, Konzentration und Aufmerksamkeit für Dinge lernt, die Einsicht erfordern. Man entwickelt dadurch Empathie. Ihre geistige Gesundheit verbessert sich. Das funktioniert in beide Richtungen: Durch das Lesen von Büchern entwickelt sich die Lesekompetenz des Einzelnen, und gleichzeitig bilden all diese einzelnen Menschen zusammen eine Kultur. Wie sich die Gesellschaft entwickelt, hängt also eng damit zusammen, wie viel und wie gut die Menschen lesen.

 

Was hat sich geändert?

Das Aufkommen des Bildschirms - insbesondere des Online-Bildschirms - hat den Schwerpunkt auf das funktionale Lesen gelegt. Auf dem Bildschirm erscheinen immer mehr kurze, eindimensionale Texte. Hinzu kommt, dass das ständige "Lesen am Bildschirm" die Konzentration, die man zum Lesen eines längeren Textes braucht, immer weiter schwächt. Der Bildschirm sorgt für ständige Ablenkung. Meldungen, rote Punkte, Pieptöne. Man könnte sagen, dass Ablenkung das Hauptmerkmal des Bildschirms ist. Und das widerspricht der Konzentration, die man zum Lesen eines Buches braucht. Es macht uns kurzatmiger, was die Konzentration beim Lesen angeht.

Warum hat der Bildschirm eine so starke Anziehungskraft?

Was die Informationen angeht, so sind sie viel schneller zu konsumieren. Es ist einfacher, zuzuhören und zuzusehen als zu lesen. Denn Zuschauen und Zuhören sind eine geringere kognitive Belastung für das Gehirn als Lesen. Der Bildschirm bietet auch unzählige Möglichkeiten, mit denen man vermeiden kann, Informationen lesend aufzunehmen. Wenn Sie sich für ein Thema interessieren, sehen Sie sich einfach den Ted Talk an, das Buch können Sie überspringen. Dann müssen Sie nicht den komplizierten Weg gehen, die Zeichen auf dem Papier zu entschlüsseln, um die Bedeutung in Ihrem Kopf zu verstehen, sondern Sie sehen sich einfach das Video an oder hören sich den Podcast an.

 

Wie sehen Sie in die Zukunft?

Es muss etwas geschehen. Immer mehr Menschen verlieren den Bezug zum Buch. Junge Leser fangen zwar damit an, weil es in der Schule Pflicht ist, aber sie bleiben nicht dabei, sie können die Aufmerksamkeit nicht aufbringen. Ihre kognitive Geduld wird durch das Lesen am Bildschirm nur unzureichend geschult. Die amerikanische Hirnforscherin Maryanne Woolf hat viel darüber geforscht, wie junge Menschen lesen. Ein Zitat von ihr: „Junge Menschen führen Aufgaben und Handlungen, einschließlich des Lesens, mit ständiger Teilaufmerksamkeit aus.“ Bildschirme fördern die Lesefähigkeit nicht. Sie tragen nicht zur Sicherung der fortschrittlichen Wissensgesellschaft der Zukunft bei.

 

Einfache Schlussfolgerung: Sollen wir den Bildschirm verbieten?

Bildschirme sind aus unserer Gesellschaft nicht mehr wegzudenken. Wir können sie nicht loswerden, wir wollen sie nicht loswerden. Es ist also sinnlos, nur den Bildschirm als Schuldigen zu sehen. Als Gesellschaft wollen wir diese Botschaft auch nicht hören. Der Bildschirm ist die Zukunft. Wir müssen also lernen, mit diesen Bildschirmen zu leben. Aber ich plädiere dafür, dass wir das tun, ohne damit unsere Lesemotivation zu untergraben.

 

Was ist Ihr Rat?

Es gibt vieles, was man tun kann. Angefangen bei so einfachen Dingen wie dem Verbot von Mobiltelefonen in der Schule - die wirklich völlig kontraproduktiv sind - bis hin zur Integration des Lesens in alle Schulfächer und der Abschaffung des seelenlosen Leseverständnisses, das sich nur auf die Funktionalität konzentriert. Das Vergnügen am Lesen sollte immer an erster Stelle stehen. Außerdem ist es sinnvoll, die Sichtbarkeit des Buches in der Gesellschaft zu erhöhen. Das Buch sollte in der Gesellschaft wieder viel präsenter sein.

 

Sie sind ein starker Befürworter des Erhalts der öffentlichen Bibliothek.

Die Bibliothek spielt eine wichtige Rolle als dauerhafter Ort für das Buch. Es ist der Tempel des Buches. Ein Gebäude, das den Büchern gewidmet ist, zeigt, dass wir als Gesellschaft diese Bücher schätzen. Die Bibliothek verleiht der Buchkultur einen hohen Stellenwert. In den letzten Jahren gab es zahlreiche Kürzungen für Bibliotheken. Das muss rückgängig gemacht werden.

 

Es geht also um ein Comeback des Buches?

Wir sollten nicht immer nur über die Bedeutung des Buches reden, sondern auch tatsächlich etwas dafür tun. Wenn das nicht geschieht, befürchte ich eine ernsthafte Spaltung der Gesellschaft.

Recht, Wissenschaft, Bildung für alle, das sind wichtige Pfeiler unserer Gesellschaft. Ohne die Existenz des Buchdrucks wäre dies nicht möglich gewesen. Wenn wir sie erhalten wollen, müssen wir weiter lesen.


Bild: Shutterstock/Studio Africa

In der Gesellschaft und in den Medien wird Lesen stets als wichtig, wenn nicht gar sehr wichtig, angesehen. Kaum jemand zweifelt die Bedeutung von Büchern und ihrem Verständnis heutzutage noch an. Die Frage, die ich mir stelle, ist aber: Verstehen wir wirklich, wie wichtig das Lesen ist?

 

Ich sprach mit Adriaan van der Weel, Professor für Buchkultur in den Niederlanden und Autor des Buches De Lezende Mens, ein Buch über die Bedeutung des Lesens in unserer heutigen Kultur.

Anmerkung: Das Buch De Lezende Mens ist aktuell leider noch nicht auf Deutsch verfügbar

 

In Ihrem Buch sprechen Sie von einer Lesekrise. Bitte erklären Sie das. Beziehen Sie sich auf die steigenden Zahlen der geringen Lese- und Schreibfähigkeit?

Nicht unbedingt. Die Themen Sprachverzögerungen und geringe Lesekompetenz sind zwar jeden Tag in den Nachrichten, sie verstellen aber den Blick auf ein größeres Problem: dass wir das Lesen zu sehr als eine funktionale Angelegenheit betrachten. Tatsächlich zeigen die Zahlen, dass das Leseniveau bei einem Viertel der Bevölkerung geringer ist als erforderlich wäre. Aber ich kann Ihnen auch sagen: Ein viel größerer Teil der Bevölkerung liest sehr wenig, einfach weil es ihnen an Motivation fehlt. Das Interesse am Lesen nimmt an breiter Front ab. Dies ist mindestens ebenso besorgniserregend wie die Probleme beim Leseniveau.

 

Warum ist das Lesen von Büchern Ihrer Meinung nach so wichtig?

Unsere Gesellschaft ist auf Büchern aufgebaut. Es ist erwiesen: Je mehr Bücher es in einer Gesellschaft gibt, desto größer ist der sozioökonomische Wohlstand. Die Buchkultur brachte uns die Renaissance, die wissenschaftliche Revolution, die Reformation und so weiter. Diese Buchkultur hat die Gesellschaft stark geprägt. Aber wir entfernen uns immer mehr davon. Das Buch rückt in der Alltagsperspektive immer mehr in den Hintergrund und durch die neuen Medien haben wir immer weniger Zeit für Bücher.

 

Warum ist das schade?

Wir betrachten das Lesen von Büchern immer noch als den "Goldstandard" des Lesens. Bücher sind lange, komplexe Texte. Diese Komplexität ist die eigentliche Lektüre. Die Lektüre, durch die man die Fähigkeit zu denken entwickelt, durch die man kognitive Geduld, Konzentration und Aufmerksamkeit für Dinge lernt, die Einsicht erfordern. Man entwickelt dadurch Empathie. Ihre geistige Gesundheit verbessert sich. Das funktioniert in beide Richtungen: Durch das Lesen von Büchern entwickelt sich die Lesekompetenz des Einzelnen, und gleichzeitig bilden all diese einzelnen Menschen zusammen eine Kultur. Wie sich die Gesellschaft entwickelt, hängt also eng damit zusammen, wie viel und wie gut die Menschen lesen.

 

Was hat sich geändert?

Das Aufkommen des Bildschirms - insbesondere des Online-Bildschirms - hat den Schwerpunkt auf das funktionale Lesen gelegt. Auf dem Bildschirm erscheinen immer mehr kurze, eindimensionale Texte. Hinzu kommt, dass das ständige "Lesen am Bildschirm" die Konzentration, die man zum Lesen eines längeren Textes braucht, immer weiter schwächt. Der Bildschirm sorgt für ständige Ablenkung. Meldungen, rote Punkte, Pieptöne. Man könnte sagen, dass Ablenkung das Hauptmerkmal des Bildschirms ist. Und das widerspricht der Konzentration, die man zum Lesen eines Buches braucht. Es macht uns kurzatmiger, was die Konzentration beim Lesen angeht.

Warum hat der Bildschirm eine so starke Anziehungskraft?

Was die Informationen angeht, so sind sie viel schneller zu konsumieren. Es ist einfacher, zuzuhören und zuzusehen als zu lesen. Denn Zuschauen und Zuhören sind eine geringere kognitive Belastung für das Gehirn als Lesen. Der Bildschirm bietet auch unzählige Möglichkeiten, mit denen man vermeiden kann, Informationen lesend aufzunehmen. Wenn Sie sich für ein Thema interessieren, sehen Sie sich einfach den Ted Talk an, das Buch können Sie überspringen. Dann müssen Sie nicht den komplizierten Weg gehen, die Zeichen auf dem Papier zu entschlüsseln, um die Bedeutung in Ihrem Kopf zu verstehen, sondern Sie sehen sich einfach das Video an oder hören sich den Podcast an.

 

Wie sehen Sie in die Zukunft?

Es muss etwas geschehen. Immer mehr Menschen verlieren den Bezug zum Buch. Junge Leser fangen zwar damit an, weil es in der Schule Pflicht ist, aber sie bleiben nicht dabei, sie können die Aufmerksamkeit nicht aufbringen. Ihre kognitive Geduld wird durch das Lesen am Bildschirm nur unzureichend geschult. Die amerikanische Hirnforscherin Maryanne Woolf hat viel darüber geforscht, wie junge Menschen lesen. Ein Zitat von ihr: „Junge Menschen führen Aufgaben und Handlungen, einschließlich des Lesens, mit ständiger Teilaufmerksamkeit aus.“ Bildschirme fördern die Lesefähigkeit nicht. Sie tragen nicht zur Sicherung der fortschrittlichen Wissensgesellschaft der Zukunft bei.

 

Einfache Schlussfolgerung: Sollen wir den Bildschirm verbieten?

Bildschirme sind aus unserer Gesellschaft nicht mehr wegzudenken. Wir können sie nicht loswerden, wir wollen sie nicht loswerden. Es ist also sinnlos, nur den Bildschirm als Schuldigen zu sehen. Als Gesellschaft wollen wir diese Botschaft auch nicht hören. Der Bildschirm ist die Zukunft. Wir müssen also lernen, mit diesen Bildschirmen zu leben. Aber ich plädiere dafür, dass wir das tun, ohne damit unsere Lesemotivation zu untergraben.

 

Was ist Ihr Rat?

Es gibt vieles, was man tun kann. Angefangen bei so einfachen Dingen wie dem Verbot von Mobiltelefonen in der Schule - die wirklich völlig kontraproduktiv sind - bis hin zur Integration des Lesens in alle Schulfächer und der Abschaffung des seelenlosen Leseverständnisses, das sich nur auf die Funktionalität konzentriert. Das Vergnügen am Lesen sollte immer an erster Stelle stehen. Außerdem ist es sinnvoll, die Sichtbarkeit des Buches in der Gesellschaft zu erhöhen. Das Buch sollte in der Gesellschaft wieder viel präsenter sein.

 

Sie sind ein starker Befürworter des Erhalts der öffentlichen Bibliothek.

Die Bibliothek spielt eine wichtige Rolle als dauerhafter Ort für das Buch. Es ist der Tempel des Buches. Ein Gebäude, das den Büchern gewidmet ist, zeigt, dass wir als Gesellschaft diese Bücher schätzen. Die Bibliothek verleiht der Buchkultur einen hohen Stellenwert. In den letzten Jahren gab es zahlreiche Kürzungen für Bibliotheken. Das muss rückgängig gemacht werden.

 

Es geht also um ein Comeback des Buches?

Wir sollten nicht immer nur über die Bedeutung des Buches reden, sondern auch tatsächlich etwas dafür tun. Wenn das nicht geschieht, befürchte ich eine ernsthafte Spaltung der Gesellschaft.

Recht, Wissenschaft, Bildung für alle, das sind wichtige Pfeiler unserer Gesellschaft. Ohne die Existenz des Buchdrucks wäre dies nicht möglich gewesen. Wenn wir sie erhalten wollen, müssen wir weiter lesen.


Bild: Shutterstock/Studio Africa