30.01.22

Herz ohne Grenzen_lowres

Durch Lesen den Horizont des Erlebens und Denkens erweitern

Marion Döbert ist eine der bekanntesten Alphabetisierungs-Expertinnen sowie freie Publizistin und Autorin. Mit ihr sprachen wir u.a. über positive Entwicklungen und aktuelle Herausforderungen in der Alphabetisierung, ihre Sicht auf die Rolle der Literatur in Einfacher Sprache sowie die Bedeutung der Vereinfachung von Klassikern, Kinder- und Jugendbüchern sowie der Literatur speziell für Frauen. 

 

Seit vielen Jahren setzen Sie sich für Menschen ein, die nicht gut lesen können. Sie haben den Bundesverband Alphabetisierung und Grundbildung gegründet und waren jahrelang Vorstandsmitglied. Für Ihre Leistungen wurden Sie mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. Welche positiven Entwicklungen im Bereich der Alphabetisierung sehen Sie in der Gesellschaft, Politik und Kultur? Wo liegen derzeit die größten Herausforderungen?

Lese- und Schreibprobleme beruhen nicht selten darauf, dass Texte wie z.B. Anträge auf die Rente, Steuerbescheide, Aufklärungsbögen für Patientinnen und Patienten, Gebrauchsanleitungen, Wahlunterlagen usw. viel zu kompliziert aufgebaut und formuliert sind. Im Mittelpunkt formalisierter Schreiben steht oft mehr die eigene rechtliche Absicherung als der Mensch, der diese Schreiben lesen soll. Ein enormer Fortschritt ist, dass infolge der UN-Behindertenrechtskonvention alle behördlichen Schreiben oder auch Wahlprogramme auch in Einfacher Sprache angeboten werden müssen. Das kommt allen Menschen zugute, nicht nur Menschen mit Behinderungen oder funktionalen Analphabeten.

Positiv in der Alphabetisierung ist sicher, dass es in den letzten Jahren großzügige Fördergelder für unzählige Projekte gegeben hat. Negativ ist, dass damit keine dauerhaften Strukturen, insbesondere im Kursangebot aufgebaut werden konnten. Projekte kommen und gehen, und wenn man solange dabei ist wie ich, dann wird klar: Die Themen wiederholen sich immer wieder, ohne dass es qualitative Sprünge gibt. Millionen wurden in Werbekampagnen gesteckt, aber man hat die funktionalen Analphabeten dadurch nicht zur Teilnahme an Kursen motivieren können. Wenn es denn überhaupt Kursangebote gibt. Im ländlichen Raum ist da eher „tote Hose“. Statt Millionen in Plakate und Spots zu investieren, müsste man in die Milieus gehen und genau da finanziell abgesicherte Kurse anbieten, bzw. ganz andere Lernformen als klassische Kurse entwickeln. So gab es in den 80-er Jahren Lese-Schreibläden, wie z.B. im Rotlichtviertel in Frankfurt. Man konnte sich beraten lassen, wenn man mit Schriftstücken nicht weiterkam, und wer es selber lernen wollte, konnte in den Hinterzimmern lesen und schreiben lernen. Die ganzen Alphabetisierungsdebatten erscheinen mir oft viel zu verkopft und zu weit weg vom Alltag der Leute. In Bielefeld gibt es ein Fahrradprojekt mit Flüchtlingen. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer wollen lernen, was eine Nabe oder eine Gangschaltung ist und wie das Wort geschrieben wird. Punkt. Curricula zum Schriftspracherwerb sind da einfach oft Überfrachtungen. Ein Vorbildprojekt in der pragmatischen Sichtweise ist die Alphabetisierung in der Alten Schule Natzungen: Jugendliche schrauben einen alten Porsche oder Mopeds zusammen, und plötzlich wollen sie begierig Bauanleitungen lesen können. Das ist m.E. die große Herausforderung der Zukunft: bei den Lebensmotivationen ansetzen und dann erst die Lernmotivationen daraus entstehen lassen.

Als Publizistin und Autorin übersetzen oder schreiben Sie selbst Bücher in Einfacher Sprache. Welche Rolle kommt der Literatur in Einfacher Sprache zu, und wie entwickeln Sie die Ideen für Ihre eigenen Bücher?

Literatur ermöglicht, auf ansprechende und unterhaltsame Weise, den eigenen Horizont des Erlebens und Denkens zu erweitern. Was ansprechend und unterhaltsam ist, entscheidet aber letztlich der Leser. Ein dickes Buch mit vielfältigen Seitenstrang-Geschichten und zeitlichen Sprüngen ist für den Literaturerfahrenen zu bewältigen und faszinierend. Bücher in epischer Breite sind für diese Zielgruppe reinster Lesegenuss. Was aber für den einen reinster Lesegenuss ist, ist für den anderen Leseverdruss. Deshalb muss Vielfalt auf dem Markt angeboten werden. Es muss ein breites Spektrum an Literatur geben, das auf die verschiedenen Voraussetzungen in der Lesesozialisation und auf die verschiedenen Geschmäcker hin ausgerichtet ist. Nicht jeder mag Krimis, Märchen, Liebesromane oder Antikriegsliteratur. Deshalb ist es gut, dass es eine breite Vielfalt an literarischen Stoffen gibt. Genauso wichtig ist es aber auch, dass es ein breites Angebot an literarischen Stilmitteln gibt, denn nur so werden unterschiedlichste (Nicht-)Leser-Zielgruppen erreicht. Literatur in Einfacher Sprache ist ein solches Stilmittel. Sie ermöglicht einem vielschichtigen Leserpublikum überhaupt erst (oder noch) den Zugang zu Literatur.

Nach einer Lesung auf dem renommierten Tübinger Lesefest 2015 sagten mir zwei literarisch sehr versierte Damen empört, dass man die Einfache Sprache gar nicht hätte hören können. Das hätte sich ja so angehört wie bei den anderen Schriftsteller-Lesungen auch. Das hat mich natürlich gefreut, denn Einfache Sprache soll man ja nicht hören, dann wäre es ein simplifizierter Text. Einfache Sprache dient lediglich dazu, dass der Text leichter lesbar und leichter sinnentnehmend zu verstehen ist.

Zu Ihrer Frage, wie ich die Ideen zu meinen eigenen Büchern in Einfacher Sprache entwickele: Das ganze Leben, unser Alltag besteht aus unendlich vielen Geschichten. Ich beobachte und höre zu, und so begegne ich Schicksalen, die ich in Romane einkleide. So beruht z.B. Rosa Meer auf der wahren Geschichte einer Frau aus einem meiner früheren Alphabetisierungskurse. Sie nannten mich Unkraut beruht auf dem Alltag von drei Männern aus den Kursen. Ich habe ihre Erfahrungen in einem einzigen Protagonisten zusammengefasst. In Sie nannten mich Unkraut erfährt die Leserin bzw. der Leser, wie dramatisch ein Leben ohne Schrift aussehen kann. Aber auch aktuelle gesellschaftliche Themen, wie z.B. die Klimakatastrophe, werden in meinen Romanen zum Sujet. Am Anfang steht eine breit angelegte Recherche wie z.B. für das Buch Mondflut. Über 250 Seiten habe ich mich mit dem Bericht des Büros für Technikfolgenabschätzung beim Deutschen Bundestag zum Thema „Gefährdung und Verletzbarkeit moderner Gesellschaften – am Beispiel eines großräumigen Ausfalls der Stromversorgung“ befasst. Hinzu kamen zahlreiche Recherchen zur Gefährdung der Nordseeinseln durch vermehrte Unwetterkatastrophen und den Anstieg des Meeresspiegels. Es ist mir sehr wichtig zu betonen: Literatur in Einfacher Sprache ist nicht irgendwas daher Geschriebenes. Ob Sie für ein 500 Seiten Buch recherchieren oder für ein schmaleres Buch in Einfacher Sprache: Es muss immer Substanz haben, und die muss stimmig sein und für die Leserin und den Leser spannend, anregend, in jedem Fall fesselnd umgesetzt werden. Am besten ist es, wenn die Leserin und der Leser mit dem Lesen nicht aufhören will bis zum Schluss des Buches. Auch darin unterscheiden sich Bücher in Einfacher Sprache nicht von Büchern in komplexer Sprache: Anfang und Ende sowie die Entwicklung der Story müssen stimmig sein und – ganz wichtig – die Musik, der sprachliche Rhythmus des Buches muss dem Inhalt entsprechen und den Inhalt tragen.

In der Vergangenheit haben Sie für den Spaß am Lesen Verlag bereits Werke von Böll, Kafka und Lenz in Einfache Sprache übersetzt. Im Frühjahr 2022 erscheint Ihre Übersetzung von Siegfried Lenz Meisterwerk Deutschstunde. Erzählungen von Theodor Storm folgen. Warum ist es wichtig, Klassiker der Literatur in Einfache Sprache zu übersetzen?

Der Zugang zu den Klassikern ist für unerfahrene Leserinnen und Leser bzw. für solche, die im Web permanent zwischen Bild, Ton, Film und Texthäppchen hin und her „hüpfen“, so gut wie gar nicht mehr möglich. Studien zeigen immer wieder, dass beim webbasierten Lesen und Lesen von Messages die Aufmerksamkeitsspanne des Lesers nur wenige Minuten, wenn nicht nur Sekunden beträgt. Die Klassiker von Böll, Kafka und Lenz zeichnen sich aus durch epische Breite, zeitliche Sprünge, eine Vielzahl an Personen und Interaktionen, lange Sätze, Metaphern (wie z.B.: „Das Eis zwischen ihnen war gebrochen.“) usw. All das verlangt ruhiges und konzentriertes Lesen sowie ein breites, inneres Vokabular, an das angedockt werden kann, um sinnverstehend lesen zu können. Viele Begrifflichkeiten in den Klassikern stammen aus anderen Zeiten und vergangenen gesellschaftlichen und kulturellen Kontexten.  Begriffe wie „Pfennig“ z.B. oder „Prolet“, „Lazarett“, „Lichtbild“ oder das veraltete Verb „ward“ werden deshalb in Wörterlisten erklärt.  Bei der Übersetzung in Einfache Sprache muss gestrafft und gekürzt werden. Dennoch müssen der rote Faden des Ausgangsbuches und der Sprachduktus des Erzählers im Grundton beibehalten werden. Erich Maria Remarque (Im Westen nichts Neues) schreibt z.B. völlig anders als Lenz. Das muss auch bei den Büchern in Einfacher Sprache rüberkommen. Als ich in meinem Umfeld erzählte, dass ich Kafkas Die Verwandlung in Einfache Sprache umschreiben würde, sah ich förmlich die Schweißtropfen auf den Gesichtern. Immer wieder kam dieselbe Reaktion: „Oh je, das Buch haben wir in der Schule gelesen. Hat keiner verstanden. Viel zu verworren. Irgendwie "gaga". Aber eigentlich kann ich mich überhaupt nicht mehr daran erinnern.“ Klassiker in Einfacher Sprache ermöglichen neue Zugänge und tragen damit dazu bei, dass die Ursprungsklassiker nicht in Vergessenheit geraten. Ich selber bekomme durch das Umschreiben einen ganz neuen Zugang zu den Klassikern: Ich verstehe sie dadurch besser, dass ich die Erzählungen ordne und komprimiere. Und tatsächlich werden die Bücher in der komprimierten Form manchmal auch spannender als in der Vorlage. In einem Gespräch mit Ekkehart Rudolph, 1977, sagte Siegfried Lenz: „Ein Problem, das ich bei Hemingway und bei Faulkner gefunden habe und das auch mein Problem ist: dass man das, was man sagen will, eigentlich nur zur Hälfte sagen sollte.“ (Siegfried Lenz, Gespräche unter Freunden, 2015, S.90). Ich wäre gespannt darauf gewesen, was Lenz zur „Deutschstunde“ in Einfacher Sprache gesagt hätte. Leider ist er 2014 verstorben.

In der Reihe Starke Frauen haben Sie Romane über Florence Nightingale und Sophie Scholl in Einfacher Sprache geschrieben. 2022 erscheint ein neues Buch von Ihnen über Edith Piaf. Was nehmen Sie selbst aus dieser Arbeit mit, und was können die Bücher insbesondere geringer literalisierten Frauen geben?

In Gesprächen über meine Arbeit wurde deutlich, dass Florence Nightingale, Helen Keller oder Marie Curie vielen – vor allem jungen Menschen – gar nichts mehr sagen. Darüber bin ich immer wieder überrascht, weil ich mit diesen Namen aufgewachsen bin. Ein junger Mann war völlig erstaunt, dass ich – also ich in meinem Alter – über Edith Piaf schreibe, denn er meinte, er hätte die Piaf doch gerade erst auf Youtube-Filmen entdeckt. Offenbar gibt es gravierende Unterschiede in den (Lese-)Sozialisationen verschiedener Generationen. Ich freue mich, dass ich mit den Büchern in Einfacher Sprache die starken Frauen für junge Generationen „wiederbeleben“ darf. Starke Frauen hatten es in der Weltgeschichte nie einfach. Entweder haben sie unter Pseudonymen veröffentlicht, sich als Männer verkleidet, oder sie sind mit ihren Leistungen in der wissenschaftlichen, politischen oder kulturellen Öffentlichkeit einfach verschwiegen worden. Durch die Frauenbewegungen ist da einiges ans Licht geholt worden, aber Literatur von starken Frauen oder über starke Frauen bedarf wegen der Komplexität der Texte ebenfalls neuer Zugänge, insbesondere für unerfahrene Leserinnen und Leser. Immer wieder beeindruckt mich bei meinen Lesungen der Lesehunger von Frauen mit Migrationshintergrund. Für sie sind starke Frauen Vorbilder. Ihre Geschichten machen Mut, eigene Ziele zu entwickeln und zu erreichen. Bücher in Einfacher Sprache eröffnen ihnen den Zugang zu starken Geschichten, durch die sie als Leserinnen selber Stärke spüren können. Bücher in Einfacher Sprache sind die ersten Bücher, die solche Frauen überhaupt von vorne bis hinten lesen können.

Im Herbst ist Ihre Übersetzung des preisgekrönten Jugendbuches Die Wolke von Gudrun Pausewang im Spaß am Lesen Verlag erschienen. Warum sollten junge Menschen diesen Roman unbedingt lesen? Und wie schätzen Sie die künftige Entwicklung des Bedarfs an Kinder- und Jugendliteratur in Einfacher Sprache ein?

In der aktuellen Politik gibt es gerade eine heftige Debatte über die Vorstöße der EU, Atomkraft als nachhaltige Energie mit öffentlichen Geldern fördern zu wollen. Das ist ein Schlag ins Gesicht der jahrzehntelang aktiven Anti-Atombewegung. Diese Bewegung wurde von unzähligen jungen Menschen mitgetragen. Aber politisch nicht interessierte Jugendliche und junge Erwachsene – zu denen gerade auch die nicht literalisierten gehören – wissen nichts über die Hintergründe und die Gefahren von Atomkraftwerken. Politische und pädagogische Zeigefinger bringen da wenig, eine Story über das dramatische Schicksal der 14-jährigen Janna, ihrer Familie und ihrer Freunde dagegen sehr viel mehr. Gudrun Pausewang hat Die Wolke kurz nach dem verheerenden Reaktorunfall von Tschernobyl 1986 geschrieben. Ich selbst hatte damals ein kleines Kind. Wir durften keine frische Milch oder frisches Obst und Gemüse zu uns nehmen. Wir alle hatten furchtbare Angst vor der radioaktiven Wolke und den Krebserkrankungen, die in der Folge der Verstrahlung entstehen konnten. So etwas darf nie in Vergessenheit geraten, und junge Menschen müssen wissen, was politische Entscheidungen in ihrem Leben anrichten können. Dafür hat Pausewang mit ihrem Buch gesorgt. Aber ihr Sprachduktus, die Verschachtelungen, die Vielzahl an Protagonisten und Schauplätzen, die Vermischung von Atom- und Kriegsthematik, das alles ist für Leseunerfahrene oder Leserinnen und Leser mit geringer Aufmerksamkeitsspanne einfach zu schwer. Das Buch in Einfacher Sprache soll den Zugang erleichtern und die Motivation stärken, am Buch „dran zu bleiben“. Jugendliche sollten das Buch unbedingt lesen, damit sie mitreden und für sich selbst entscheiden können.

Der Bedarf an Literatur in Einfacher Sprache wird sehr stark ansteigen. Wer neu in Deutschland ankommt, muss erst einmal die Sprache lernen. Und so, wie ein Fremdsprachenlerner zu den „Easy Readers“ greift, müssen Neuleserinnen und -leser auf Literatur in Einfacher Sprache zurückgreifen können. Aber auch grundsätzlich verweist das Leseverhalten der 12- bis 19-Jährigen in Deutschland auf einen hohen Bedarf an mitreißender und interessanter Jugendliteratur in Einfacher Sprache. Jedes Jahr gibt es die JIM-Studie zum Medienverhalten von 12- bis 19-Jährigen. Nur 32% der Jugendlichen lesen überhaupt aus eigenen Stücken, also ohne schulischen oder beruflichen Anlass. Unter den Jungen sind 23% Nichtleser, unter den Mädchen 13%, und was zu erwarten war: Je niedriger die formale Bildung, desto höher der Anteil der Nichtleser. Hinzu kommt, dass mit zunehmendem Alter die Nichtleserinnen und -leser zunehmen und die regelmäßig Lesenden abnehmen. Es ist also dringend geboten, Literatur in Einfacher Sprache als Einstieg in das Lesen und zur Aufrechterhaltung der Lesemotivation speziell für Kinder und Jugendliche zu entwickeln. Lesen und Verstehen haben mit eigener Mündigkeit zu tun. Die Chance dazu müssen wir den jungen Menschen mit unseren Büchern eröffnen.

 

Marion Döbert ist eine der bekanntesten Alphabetisierungs-Expertinnen sowie freie Publizistin und Autorin. Seit 2013 schreibt sie für den Spaß am Lesen-Verlag. Die Deutschstunde ist das 25. Buch, das sie für den Verlag geschrieben hat. Elf ihrer Bücher sind eigene Romane in Einfacher Sprache.