05.05.22
Von der Notwendigkeit einer gesellschaftlichen Debatte über kulturelles Lernen in der Schule
Im Hintergrundgespräch berichtet Jan-Dirk Zimmermann, Schulleiter am Richard-Wossidlo-Gymnasium in Ribnitz-Damgarten, von den Folgen der Corona-Pandemie und der Bedeutung des Lesens im Schulalltag am Gymnasium. Er erläutert die Rolle von Sprache und Büchern – auch im Zusammenhang mit der Integration ausländischer Schülerinnen und Schüler.
Die Herausforderungen an die Schulen sind unter dem Eindruck der Corona-Pandemie massiv gestiegen. Welche Folgen von Schulschließungen und Distanzlernen beobachten Sie bei den Schülerinnen und Schülern?
Bei ungefähr einem Drittel der Schülerinnen und Schüler einer Klasse sehe ich negative Veränderungen. Das betrifft besonders Kinder und Jugendliche, die auf Grund des sozialen Status oder der Wohnlage keinen Zugang zum Internet oder zu einem Rückzugsraum hatten. Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund, die in der Folge kein Sprachbad mehr nehmen konnten, haben große Lücken. In den verschiedenen Fächern lassen sich Lernrückstände von einem bis zu eineinhalb Jahren beobachten. Darüber hinaus bestehen psychische Auffälligkeiten bis hin zu suizidalen Gedanken, die teilweise Klinikaufenthalte erforderlich machen. Pro Jahrgangsstufe gibt es aber auch etwa zwei bis drei Schülerinnen oder Schüler, die besser geworden sind. Für Autistinnen und Autisten beispielsweise war diese Zeit extrem leistungsfördernd.
Was ist mit Schülerinnen und Schülern, denen der Zugang zu Texten schwerfällt?
Die Grundschulen hatten sehr große Probleme, weil die Schülerinnen und Schüler anfangs die Schriftsprache noch nicht beherrschten und daher noch nicht in der Lange waren, online Arbeitsaufträge eigenständig zu erledigen.
Kürzlich legte eine Studie des Instituts für Schulentwicklungsforschung der TU Dortmund offen, dass Viertklässler zum Zeitpunkt der Untersuchung deutlich schlechter lesen konnten als vor der Corona-Krise. Die untersuchten Kinder besuchen jetzt z.T. die Gymnasien. Beobachten Sie Ähnliches?
Die Studie trifft es ganz klar, nämlich eine deutlich schlechtere Lesekompetenz. Im Bildungspluralismus haben die Gymnasien in den Bundesländern, in denen die Kinder nach der vierten Klasse die Schule wechseln, jetzt diese Aufgabe. In den östlichen Bundesländern - wie z.B. in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern - gibt es eine schulformunabhängige Orientierungsstufe. Dort findet der Schulwechsel erst zur 7. Klasse statt. Grundsätzlich gehe ich davon aus, dass wir in den sechs Jahren nach Auspendeln der Corona-Maßnahmen mit den Spätfolgen zu tun haben und entsprechende Förderbedarfe bestehen werden.
Welche Bedeutung hat Lesekompetenz für die schulische Laufbahn?
Wir haben in allen Fächern inzwischen eine sehr hohe Textlastigkeit. Das bedeutet, Aufgaben sind nur lösbar, wenn man auch den Text entschlüsseln kann. Das gilt etwa für die Matheaufgabe genauso wie für die Beschreibung von Versuchsaufbauten in Chemie oder von Prozessen in Biologie oder Physik sowie etwa für Texte in den Gesellschaftswissenschaften. Wenn man diese nicht gut und schnell entschlüsseln kann, ist man nicht in der Lage, am Bildungsprozess teilzuhaben.
Ist es deswegen auch wichtig, dass die Texte zugänglich sind, sodass diese die Leserinnen und Leser dort abholen, wo sie stehen – nämlich auf unterschiedlichen Niveaus?
Unsere Schülerinnen und Schüler sind medial sehr gut aufgestellt. Das heißt, sie informieren sich schnell mit Hilfe von Erklärvideos bei YouTube oder einer Lernsoftware. Was sie aus eigenem Antrieb nicht machen würden, ist freiwillig längere Texte zu lesen. Das heißt, die Texte zugänglich zu machen, ist die eine Hälfte. Eine Brücke zu bauen, dass sie diese anschauen, ist die andere. Deswegen muss es Menschen geben, die ihnen dabei helfen, diese Texte zu entschlüsseln. Das ist im Moment die Riesenaufgabe. Und das ist auch das, was unter den Corona-Maßnahmen im Distanzbetrieb weggefallen ist.
Erleben Sie, dass die Kinder und Jugendlichen weniger zum Buch greifen – auch in ihrer Freizeit?
Viele würden eher zu Büchern greifen, wenn Zuhause noch welche stehen würden. Das muss man ganz klar sagen. Bei einer meiner früheren Schulen in Rheinland-Pfalz habe ich die Schülerinnen und Schüler gefragt: Was lest ihr? Am Ort gab es eine alte Gemeindebücherei. Dort gab es beispielsweise Jim Knopf und ähnliche Kinder- und Jugendliteratur. Die hatten alle gelesen. Wenn man jetzt fragt, nennen die Schülerinnen und Schüler meistens das Deutsch- oder Englischbuch. Sie nehmen jedoch nicht flächendeckend klassische Bücher zur Hand. Das gilt übrigens auch für das Lesen von Zeitungen. Fragt man nach Zeitungstiteln, dann werden kostenlose Wochenblätter genannt. Die liegen jede Woche im Briefkasten. Innerhalb einer Klasse liest vielleicht noch eine Schülerin oder ein Schüler die örtliche Tageszeitung. Ähnlich schlecht fällt der Befund für überregionale Zeitungsangebote aus. Vereinzelt nutzen Schülerinnen und Schüler sporadisch das Abo für Online-Nachrichtenportale ihrer Eltern. Insgesamt lesen sie jedoch sehr wenig.
Wie bewerten Sie das für die Entwicklung der Gesellschaft?
Ich sehe da tatsächlich ein größeres Problem auf uns zukommen, weil damit eine Kernkompetenz verlorengeht. Und die Schülerinnen und Schüler merken das nicht einmal, weshalb sie dieser Kompetenz auch nicht aus eigener Motivation nachjagen.
Müsste es daher Angebote geben, mit denen man konkret entgegensteuert?
Wir machen in den Schulen unglaublich viel. Aber wir müssen zurück zu den Kernen. Das bedeutet unter anderem, dass wir mehr in die Lesefähigkeiten investieren und das Textverständnis trainieren müssen. Dazu braucht es deutlich mehr Stunden, Möglichkeiten und Anleitung. An die Schülerinnen und Schüler muss das eine Einladung sein. Es ist nicht damit getan, dass wir einen Text entschlüsseln, und die Schülerinnen und Schüler bekommen dafür eine Eins oder eine Sechs. In erster Linie muss man die Schülerinnen und Schüler motivieren.
Wie ließe sich das Ihrer Meinung nach erreichen?
Wir müssen ganz unten anfangen. Ich glaube, wir sind inzwischen sogar an dem Punkt, dass wir das Lesen auch den Eltern wieder nahebringen müssen. Während meiner Zeit am Aachener Geschwister-Scholl-Gymnasium habe ich einen Poetry Slam in einem Buchladen veranstaltet. Dazu haben wir die Eltern eingeladen. Hinterher sind diese durch den Buchladen gegangen und haben festgestellt: Es gibt unglaublich viele Bücher. Einzelne sind dann mit Büchern herausgegangen. Das heißt: Wir müssen die Leute zum Buch bringen und ihnen eine Brücke bauen. Selbst wenn sie dann nur einen Bildband kaufen und eine Bildunterschrift lesen, haben sie meist schon mehr gelesen, als sie dieses beim Vorspann für die nächste Netflix-Serie tun würden.
Sie erwähnten schon, dass Sie, bevor Sie die Schulleitung am Richard-Wossidlo-Gymnasium in Ribnitz-Damgarten übernommen haben, Direktor am Geschwister-Scholl-Gymnasium in Aachen waren. Dieses sieht sich besonders der Integration von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund verpflichtet. Wie kann Integration Ihrer Meinung nach gelingen?
Integration ist ein Spezialgebiet mit enorm vielen Facetten. Wir müssen darauf schauen, aus welchen Gründen die Schülerinnen und Schüler hier sind. Wollen sie langfristig hier sein? Oder wollen sie hier lediglich „überwintern“? Die Frage darüber hinaus lautet: Woher kommen sie? Denken wir beispielsweise an einen Flüchtling aus Zentralafrika. In einigen Regionen dort gibt es nur ein relativ schlechtes Schulbildungssystem. Für diesen Schüler ist die Hürde ins deutsche Schulsystem deutlich höher als für jemanden, der aus einer westlich geprägten Kulturlandschaft, z. B. Italien, kommt. Für diesen besteht kaum ein Unterschied. Grundsätzlich gilt aber: Wenn die Schülerin oder der Schüler selbst motiviert ist und das Lehrerkollegium ebenfalls, findet man Brücken, wie Integration auch schulisch zum Erfolg wird.
Welche Rolle übernehmen Sprache und Sprachförderung hierbei?
Wir gestalten deutschlandweit in den Schulen ein rein deutschsprachiges Bildungssystem. Das heißt: kein Deutsch, keine Teilhabe. Bilinguale Angebote sind Inselangebote. Nur wenige Zentren bieten echte internationale Abschlüsse an. Daher muss in der Regel die deutsche Sprache zuerst erlernt werden.
Könnten an dieser Stelle Bücher wie beispielsweise die Deutschstunde von Siegfried Lenz in Einfacher Sprache oder Übersetzungen klassischer Jugendliteratur helfen?
Die Deutschstunde kann man z.B. einem Italiener relativ einfach vermitteln, weil der italienische Schüler den europäischen Kulturraum versteht. Jemand, der aus Syrien kommt, versteht die darunter liegende europäische Kultur möglicherweise erst einmal gar nicht. Aber wenn wir wollen, dass dieser ebenfalls ankommt, dann brauchen wir ein breitgefächertes Angebot „Einführung in die europäische Kultur“ und gleichzeitig auch entsprechende Vermittler vor Ort.
Gibt es dafür Ihrer Ansicht nach eine Bereitschaft?
Wenn wir die Kolleginnen und Kollegen fragen würden, würden diese sicher sagen, dass die Schülerinnen und Schüler zunächst in der Lage sein müssen, alltagspraktische Dinge zu erledigen. Das wäre die erste Stufe. Auf einer zweiten Stufe müssten sie in der Lage sein, sich sicher im lokalen Raum zu bewegen. Und erst an dritter Stelle kommen dann Literatur und Kultur ins Spiel. Die Bildungspolitik sieht das nach meinen Erfahrungen jedoch nicht. Für Schülerinnen und Schüler, die an Gymnasien beschult werden sollen, werden die Stufen 1 und 2 zu schnell übersprungen. Dazu bräuchten wir unbedingt einen gesellschaftlichen Diskurs, dass wir genau diese Form des kulturellen Lernens stärker in die Schule einbinden und hierfür auch Raum schaffen.
Jan-Dirk Zimmermann ist Direktor des Richard-Wossidlo-Gymnasiums in Ribnitz-Damgarten. Zuvor war er sechs Jahre Direktor am Geschwister-Scholl-Gymnasium in Aachen-Ost. Unter dem Motto „Miteinander – Füreinander – Aufeinander zu“ sieht sich dieses insbesondere der Integration von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund verpflichtet.