05.09.22

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Weltalphabetisierungstag

Am Donnerstag, dem 8. September, ist wieder Weltalphabetisierungstag. An diesem Tag finden Aktionen rund um das Thema 'Geringe Literarität' statt. Diese Aktionen sollen die breite Öffentlichkeit dafür sensibilisieren, dass es in Sachen Lesen und Schreiben noch viel zu tun gibt.

Und es funktioniert. Immer mehr Menschen wird bewusst, dass ein Teil unserer Bevölkerung nicht ausreichend lesen kann, dass dies eine Bedrohung für unsere Wirtschaft darstellt und dass das Leben für Analphabeten oft sehr schwierig ist. Diejenigen, die in unserer heutigen Gesellschaft nicht gut lesen und schreiben können, haben täglich ein Problem im Berufs- und Privatleben.

Daher ist es wichtig, dass der Weltalphabetisierungstag so viel Aufmerksamkeit erfährt. Dadurch wächst das Bewusstsein dafür, dass mangelnde Alphabetisierung kein Problem ist, dass sich auf die Länder der Dritten Welt beschränkt, sondern auch in Europa real ist.  

 

Natürlich beschränkt sich diese problematische Entwicklung nicht auf die letzten Jahre, sondern geht Hand in Hand mit dem Wandel unserer Wirtschaft seit den 1950er Jahren und ihrer fortschreitenden Digitalisierung. In Europa wurden seit den 1970er Jahren mehrere Studien zu diesem Thema durchgeführt. Vor allem die skandinavischen Länder standen dabei an vorderster Front. Sie erkannten schnell, dass die Wirtschaft der Zukunft zunehmend eine digitale Wissenswirtschaft sein würde und dass Arbeitskräfte, die lesen und schreiben können, eine absolute Voraussetzung dafür sind.

Nach den skandinavischen Ländern wurden auch die Länder im mittleren Teil Europas aktiv. In England wurde die Plain Language Campaign ins Leben gerufen und in den Niederlanden entstanden ab den siebziger Jahren alle möglichen Initiativen, um Menschen mit geringer Lesekompetenz zu erreichen; insbesondere die Bibliotheken spielten dabei eine wichtige Rolle.

 

Deutschland folgte relativ spät. Obwohl es bereits seit den 1980er Jahren den Bundesverband Alphabetisierung gab, konnte die Zahl der “funktionalen Analphabeten” im Land lange nur geschätzt werden. 4 Millionen, vermutete der Bundesverband, eine Zahl, die oft stark angezweifelt wurde. Erst 2011 wurde die erste Leo-Studie veröffentlicht, aus der hervorging, dass fast 15 % Prozent der erwachsenen Bevölkerung in diesem Land über geringe Lese- und Schreibkenntnisse verfügen. Weit mehr Menschen als geschätzt.

Das löste in Deutschland ein Umdenken aus und gab dem Thema mehr Aufmerksamkeit. Mit der Nationalen Dekade für Alphabetisierung 2016-2026 nahmen sich Bund, Länder und gesellschaftliche Akteure gemeinsam des Themas an.

 

Als regelmäßiger Leser dieses Newsletters kennen Sie die Fakten wahrscheinlich wie Ihre Westentasche. Um jedoch die Bedeutung des kommenden Donnerstags zu unterstreichen, werde ich sie erneut nennen. 

6,2 Millionen Erwachsene in Deutschland gelten nach der Leo-Studie von 2018 als “gering literalisiert”. Die meisten dieser Menschen können ein wenig lesen und schreiben, allerdings auf niedrigem Niveau: “Kompetenzen auf dem Alpha-Level 3 entsprechen der Satzebene. Auf diesem Alpha-Level sind Personen in der Lage, einzelne Sätze zu lesen und zu schreiben, sie scheitern aber an der Ebene zusammenhängender – auch kürzerer – Texte.” Auf diesem Niveau befinden sich 4,2 Millionen Menschen.

Zusätzlich haben 10,6 Millionen Menschen eine “auffällig fehlerhafte Rechtschreibung, auch bei gebräuchlichem und einfachem Wortschatz”. Insgesamt kann man sagen, dass lesen und schreiben für etwa ein Drittel der Erwachsenen eine Herausforderung ist.

Bei der Beschreibung des Problems müssen wir berücksichtigen, dass Begriffe wie “funktionaler Analphabetismus” und “geringe Literalität” immer eine Relation zwischen den individuellen Kompetenzen und den Anforderungen der Gesellschaft abbilden. Letztere sind in den letzten 50 Jahren gewaltig gestiegen: Die Gesellschaft hat eine digitale Revolution erlebt, ohne sich dessen bewusst zu sein. Dies geht mit einer gigantischen Menge Text einher und genau da liegt das Problem: hier ein zunehmend textbasiertes Leben und dort eine Gruppe von Menschen, die damit weniger gut zurechtkommt.

Für die meisten Menschen mit geringen Lese- und Schreibkenntnissen scheinen ihre Defizite beim Lesen und Schreiben kein großes Problem im Alltag darzustellen. Auf dem Arbeitsmarkt geraten sie allerdings in Schwierigkeiten. Ungefähr 13% dieser Menschen sind arbeitslos – gegenüber ca. 5% der Gesamtbevölkerung zum Zeitpunkt der Studie. In der Arbeitswelt wird das Niveau zu hoch und was im Alltag an Kompetenz ausgereicht hat, reicht nicht mehr. Das hat nicht nur persönliche, sondern auch wirtschaftliche Konsequenzen.

Aktuell werden Millionen von Euro ausgegeben, um Betroffene dazu zu bringen, (erneut) eine Schule oder einen Kurs zu besuchen. Die Zahlen zeigen jedoch, dass dies nicht sehr gut funktioniert. Es sind andere, innovativere Lösungen erforderlich. Lösungen, die es zwar gibt, die aber oft ignoriert werden.

Hier kommen wir ins Spiel. In den 1990er Jahren haben wir in den Niederlanden mit einem Verlag für einfache Bücher und Zeitungen für Menschen mit Lernschwierigkeiten begonnen, 2009 kam der deutsche Verlag dazu.

Der Grundgedanke ist einfach: Für Menschen mit Leseschwäche muss das Lesen erst einmal erleichtert werden. Für schwache Leser:innen sind normale Bücher zu schwierig, Literatur unerreichbar. Deshalb halten sich diese Menschen von Büchern und dem Lesen fern. Um sie wieder “zum Buch zu bringen”, müssen wir ihnen einfache, und dennoch relevante und unterhaltsame Bücher anbieten. 

Lesen soll Spaß machen und häufig fehlt es dafür an Selbstbewusstsein. Es ist ähnlich wie beim Schwimmunterricht für unerfahrene ältere Menschen oder Kinder: Die ersten Lektionen sind nicht anstrengend, sondern dienen der Gewöhnung an das Wasser, das Schwimmen und die Umgebung des Schwimmbeckens.

Das einfache Buch ist also ein Zwischenschritt, um das normale Buch möglich zu machen. Für Menschen, die Schwierigkeiten beim Gehen haben, gibt es Rollstühle oder Krücken, für blinde Menschen gibt es Bücher in Blindenschrift, für Sehbehinderte gibt es Bücher in Großdruck, warum also nicht auch Bücher in Leichter Sprache für Menschen mit geringer Lesekompetenz?

Das klingt eigentlich logisch, oder? Trotz alldem bekommen wir immer noch kaum politische Beachtung geschenkt. Das ist seltsam,  vor allem, wenn man bedenkt, dass wir inzwischen eine riesige Leserschaft aufgebaut haben, die beweist, dass wir es wie kein anderer verstehen, die Zielgruppe zu erreichen.

Weltalphabetisierungstag: ein Tag der Kommunikation, ein Tag der Erkenntnis. Hoffentlich zeigt sich das auch bald bei den politischen Entscheidungsträgern.


Quelle der Zahlen und Zitate: Grotlüschen, Anke; Buddeberg, Klaus; Dutz, Gregor; Heilmann, Lisanne; Stammer, Christopher (2019): LEO 2018 – Leben mit geringer Literalität. Pressebroschüre, Hamburg.

Am Donnerstag, dem 8. September, ist wieder Weltalphabetisierungstag. An diesem Tag finden Aktionen rund um das Thema 'Geringe Literarität' statt. Diese Aktionen sollen die breite Öffentlichkeit dafür sensibilisieren, dass es in Sachen Lesen und Schreiben noch viel zu tun gibt.

Und es funktioniert. Immer mehr Menschen wird bewusst, dass ein Teil unserer Bevölkerung nicht ausreichend lesen kann, dass dies eine Bedrohung für unsere Wirtschaft darstellt und dass das Leben für Analphabeten oft sehr schwierig ist. Diejenigen, die in unserer heutigen Gesellschaft nicht gut lesen und schreiben können, haben täglich ein Problem im Berufs- und Privatleben.

Daher ist es wichtig, dass der Weltalphabetisierungstag so viel Aufmerksamkeit erfährt. Dadurch wächst das Bewusstsein dafür, dass mangelnde Alphabetisierung kein Problem ist, dass sich auf die Länder der Dritten Welt beschränkt, sondern auch in Europa real ist.  

 

Natürlich beschränkt sich diese problematische Entwicklung nicht auf die letzten Jahre, sondern geht Hand in Hand mit dem Wandel unserer Wirtschaft seit den 1950er Jahren und ihrer fortschreitenden Digitalisierung. In Europa wurden seit den 1970er Jahren mehrere Studien zu diesem Thema durchgeführt. Vor allem die skandinavischen Länder standen dabei an vorderster Front. Sie erkannten schnell, dass die Wirtschaft der Zukunft zunehmend eine digitale Wissenswirtschaft sein würde und dass Arbeitskräfte, die lesen und schreiben können, eine absolute Voraussetzung dafür sind.

Nach den skandinavischen Ländern wurden auch die Länder im mittleren Teil Europas aktiv. In England wurde die Plain Language Campaign ins Leben gerufen und in den Niederlanden entstanden ab den siebziger Jahren alle möglichen Initiativen, um Menschen mit geringer Lesekompetenz zu erreichen; insbesondere die Bibliotheken spielten dabei eine wichtige Rolle.

 

Deutschland folgte relativ spät. Obwohl es bereits seit den 1980er Jahren den Bundesverband Alphabetisierung gab, konnte die Zahl der “funktionalen Analphabeten” im Land lange nur geschätzt werden. 4 Millionen, vermutete der Bundesverband, eine Zahl, die oft stark angezweifelt wurde. Erst 2011 wurde die erste Leo-Studie veröffentlicht, aus der hervorging, dass fast 15 % Prozent der erwachsenen Bevölkerung in diesem Land über geringe Lese- und Schreibkenntnisse verfügen. Weit mehr Menschen als geschätzt.

Das löste in Deutschland ein Umdenken aus und gab dem Thema mehr Aufmerksamkeit. Mit der Nationalen Dekade für Alphabetisierung 2016-2026 nahmen sich Bund, Länder und gesellschaftliche Akteure gemeinsam des Themas an.

 

Als regelmäßiger Leser dieses Newsletters kennen Sie die Fakten wahrscheinlich wie Ihre Westentasche. Um jedoch die Bedeutung des kommenden Donnerstags zu unterstreichen, werde ich sie erneut nennen. 

6,2 Millionen Erwachsene in Deutschland gelten nach der Leo-Studie von 2018 als “gering literalisiert”. Die meisten dieser Menschen können ein wenig lesen und schreiben, allerdings auf niedrigem Niveau: “Kompetenzen auf dem Alpha-Level 3 entsprechen der Satzebene. Auf diesem Alpha-Level sind Personen in der Lage, einzelne Sätze zu lesen und zu schreiben, sie scheitern aber an der Ebene zusammenhängender – auch kürzerer – Texte.” Auf diesem Niveau befinden sich 4,2 Millionen Menschen.

Zusätzlich haben 10,6 Millionen Menschen eine “auffällig fehlerhafte Rechtschreibung, auch bei gebräuchlichem und einfachem Wortschatz”. Insgesamt kann man sagen, dass lesen und schreiben für etwa ein Drittel der Erwachsenen eine Herausforderung ist.

Bei der Beschreibung des Problems müssen wir berücksichtigen, dass Begriffe wie “funktionaler Analphabetismus” und “geringe Literalität” immer eine Relation zwischen den individuellen Kompetenzen und den Anforderungen der Gesellschaft abbilden. Letztere sind in den letzten 50 Jahren gewaltig gestiegen: Die Gesellschaft hat eine digitale Revolution erlebt, ohne sich dessen bewusst zu sein. Dies geht mit einer gigantischen Menge Text einher und genau da liegt das Problem: hier ein zunehmend textbasiertes Leben und dort eine Gruppe von Menschen, die damit weniger gut zurechtkommt.

Für die meisten Menschen mit geringen Lese- und Schreibkenntnissen scheinen ihre Defizite beim Lesen und Schreiben kein großes Problem im Alltag darzustellen. Auf dem Arbeitsmarkt geraten sie allerdings in Schwierigkeiten. Ungefähr 13% dieser Menschen sind arbeitslos – gegenüber ca. 5% der Gesamtbevölkerung zum Zeitpunkt der Studie. In der Arbeitswelt wird das Niveau zu hoch und was im Alltag an Kompetenz ausgereicht hat, reicht nicht mehr. Das hat nicht nur persönliche, sondern auch wirtschaftliche Konsequenzen.

Aktuell werden Millionen von Euro ausgegeben, um Betroffene dazu zu bringen, (erneut) eine Schule oder einen Kurs zu besuchen. Die Zahlen zeigen jedoch, dass dies nicht sehr gut funktioniert. Es sind andere, innovativere Lösungen erforderlich. Lösungen, die es zwar gibt, die aber oft ignoriert werden.

Hier kommen wir ins Spiel. In den 1990er Jahren haben wir in den Niederlanden mit einem Verlag für einfache Bücher und Zeitungen für Menschen mit Lernschwierigkeiten begonnen, 2009 kam der deutsche Verlag dazu.

Der Grundgedanke ist einfach: Für Menschen mit Leseschwäche muss das Lesen erst einmal erleichtert werden. Für schwache Leser:innen sind normale Bücher zu schwierig, Literatur unerreichbar. Deshalb halten sich diese Menschen von Büchern und dem Lesen fern. Um sie wieder “zum Buch zu bringen”, müssen wir ihnen einfache, und dennoch relevante und unterhaltsame Bücher anbieten. 

Lesen soll Spaß machen und häufig fehlt es dafür an Selbstbewusstsein. Es ist ähnlich wie beim Schwimmunterricht für unerfahrene ältere Menschen oder Kinder: Die ersten Lektionen sind nicht anstrengend, sondern dienen der Gewöhnung an das Wasser, das Schwimmen und die Umgebung des Schwimmbeckens.

Das einfache Buch ist also ein Zwischenschritt, um das normale Buch möglich zu machen. Für Menschen, die Schwierigkeiten beim Gehen haben, gibt es Rollstühle oder Krücken, für blinde Menschen gibt es Bücher in Blindenschrift, für Sehbehinderte gibt es Bücher in Großdruck, warum also nicht auch Bücher in Leichter Sprache für Menschen mit geringer Lesekompetenz?

Das klingt eigentlich logisch, oder? Trotz alldem bekommen wir immer noch kaum politische Beachtung geschenkt. Das ist seltsam,  vor allem, wenn man bedenkt, dass wir inzwischen eine riesige Leserschaft aufgebaut haben, die beweist, dass wir es wie kein anderer verstehen, die Zielgruppe zu erreichen.

Weltalphabetisierungstag: ein Tag der Kommunikation, ein Tag der Erkenntnis. Hoffentlich zeigt sich das auch bald bei den politischen Entscheidungsträgern.


Quelle der Zahlen und Zitate: Grotlüschen, Anke; Buddeberg, Klaus; Dutz, Gregor; Heilmann, Lisanne; Stammer, Christopher (2019): LEO 2018 – Leben mit geringer Literalität. Pressebroschüre, Hamburg.