05.09.24
Ein einzigartiges Buch
Ungefähr 6,5 Millionen Deutsche zwischen zehn und 65 Jahren verfügen über sehr geringe Lese- und Schreibkenntnisse – man sagt dann, sie sind „gering literalisiert“. So bezeichnet man Menschen, die nur schlecht lesen können - und wenn, dann nur sehr einfache Texte. Und oft können sie noch schlechter schreiben. Das ist in der heutigen Zeit ein großes Hindernis: Diese Menschen müssen sich in einer Gesellschaft zurechtfinden, die in den letzten Jahrzehnten sprachlich immer komplexer geworden ist und in der die Anforderungen an die Lese- und Schreibfähigkeiten ständig steigen.
Wer nicht gut lesen und schreiben kann, hat es an vielen Stellen schwerer. Man
können auf einen guten Job pfeifen, ist oft weniger informiert über das, was in
der Welt so geschieht, hat mehr Schwierigkeiten, soziale Kontakte zu pflegen,
und ist in alltäglichen Situationen regelmäßig auf Hilfe angewiesen.
Briefe von Behörden, alles rund um Finanzen oder Informationen über die
Gesundheit: Die ganze Menge an Texten, der täglich auf die Menschen
einprasselt, kann einen dann manchmal mutlos werden lassen und ohne die Hilfe
eines wohlmeinenden Familienmitglieds oder eines Nachbarn ist man meist allein
und gerät schnell in Schwierigkeiten. Ungeöffnete Briefe führen zu Schulden,
ungelesene Packungsbeilagen von Medikamenten zu gesundheitlichen Problemen. Es
gehört schon einiges an Durchhaltevermögen, Beharrlichkeit und Improvisation
dazu, wenn man in einem Land wie Deutschland als gering literalisierter Mensch
seinen Alltag bewältigen muss.
Zum Glück hat sich das seit dem Jahr 2011 geändert, als das ganze Ausmaß der
geringen Literalisierung in unserem Land durch eine groß angelegte Studie
aufgedeckt wurde. Behörden wurden verpflichtet, barrierefreier zu
kommunizieren, die „AlphaDekade“ wurde ausgerufen und es gibt mittlerweile viele
Initiativen, die Menschen mit geringer Lese- und Schreibkompetenz helfen. Trotzdem
ist das Thema oft noch immer ein „Tabuthema“ und viele Menschen trauen sich
nicht, über ihre Probleme zu sprechen und sich Hilfe zu holen. Denn aus
Erfahrung wissen sie, dass ihnen dann oft unterstellt wird, dumm und faul zu
sein.
Es ist also an der Zeit, Menschen mit Lese- und Schreibschwierigkeiten zu Wort
kommen zu lassen. Und genau das tun wir in dem Buch „Sehr geehrter Herr Bundespräsident
– Briefe von gering literalisierten Menschen an Frank Walter Steinmeier“. Es
entstand in Zusammenarbeit mit dem Bundesverband für Alphabetisierung und dem
Grundbildungs-Zentrum Berlin. Wir haben fast 30 Menschen mit Lese- und
Schreibschwierigkeiten gebeten, ihre Geschichten aufzuschreiben. In Form eines
Briefes an einen der einflussreichsten Menschen Deutschlands. Einen Brief an
den Bundespräsidenten, Frank-Walter Steinmeier.
Es sind beeindruckende und manchmal emotionale Briefe geworden. Offen erzählen
unsere Briefschreiberinnen und Briefschreiber, wie sie in dieser
Sprachgesellschaft meist zurechtkommen - und manchmal auch nicht. Welche
Probleme begegnen ihnen im Alltag? Welche Lösungen haben sie gefunden, um diese
oft hohen sprachlichen Barrieren zu überwinden? Was sind ihre Enttäuschungen,
aber auch ihre Erfolge?
Zusammen vermitteln die Briefe ein gutes Bild davon, was es bedeutet, in einem
Land wie Deutschland gering literalisiert zu sein. Wir hoffen, damit den 6,5
Millionen Menschen eine Stimme zu geben, die täglich erleben, dass Lesen und
Schreiben in einem Land wie dem unseren fast so wichtig ist wie das Atmen.