05.09.24

"Ein Lernprozess muss immer individuell betrachtet werden!"

Herr Dr. Feldmeier García, Sie sind Experte für Alphabetisierung im Bereich DaF/DaZ und haben auch viel im Bereich der Grundbildung gearbeitet. Sie haben verschiedene Projekte durchgeführt, zu Alphabetisierung geforscht und selbst Lernmaterialien entwickelt. Daneben waren Sie und sind bis heute in zahlreichen Verbänden und Beiräten aktiv, zum Beispiel im Zusammenhang mit der Projektarbeit der AlphaDekade.


Wie kann man den momentanen Entwicklungsstand im Hinblick auf Alphabetisierung und Grundbildung in Deutschland beschreiben?

Man kann sagen, dass in den letzten Jahren und vor allem nach der ersten LEO-Studie sehr viel passiert ist. Viele Gelder sind geflossen und viele neue Projekte sind entstanden.

Die meisten Projekte richten sich dabei allerdings an die Zielgruppe der Menschen, die Deutsch als Erstsprache erworben haben. Man darf allerdings nicht vergessen, dass es in der Grundbildung auch Menschen mit Zuwanderungsgeschichte oder Migrationshintergrund gibt. Diese Gruppe ist bei den Projekten leider größtenteils ausgespart geblieben.

Sie sind auch ein Teil der bundesweiten Projektarbeit der AlphaDekade. Denken Sie, dass dieses Projekt zukünftig noch verlängert wird? Denn offiziell wäre die „Dekade“ in zwei Jahren abgelaufen…

Ich denke: Es wäre eine Katastrophe, wenn die Dekade nicht verlängert wird! Denn das Problem, dass ein Teil der Bevölkerung auf der funktionalen Ebene gar nicht lesen und schreiben kann, wird auch nach Ablauf der Dekade nicht „weg“ sein. Etwa 20 % der Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter verfügt über ein Literalitätsniveau, das unterhalb der Kompetenzen eines Viertklässlers liegt. Und wenn man nicht 20 Prozent der Bevölkerung links liegen lassen will, muss irgendwas passieren. Das hoffe ich zumindest.

Da haben Sie Recht! Wie könnte man dem Problem der geringen Literalisierung denn beispielsweise entgegenwirken?

Der Aspekt der Beratung ist natürlich insgesamt für den Bereich der Grundbildung sehr wichtig. Die Frage der individuellen Lernmotivation muss mehr in den Vordergrund gestellt werden: Warum möchtest du etwas lernen? Oder warum auch nicht?

Oft sind die Menschen schon über viele Jahre hinweg gescheitert sind. Es handelt sich um Erwachsene, die schon etliche Jahre lang zur Schule gegangen und trotz ausgebildeter Lehrkräfte und eines strukturierten Lehrplans gescheitert sind. Diese Art zu Lernen wird zum Beispiel 20 Jahre später mit denselben Bedingungen und Verfahren nicht plötzlich erfolgreich sein.

Warum nicht?

Es geht nicht nur um das Lesen und Schreiben an sich, sondern auch um die individuellen Lernkonzepte und Lerneinstellungen: Will ich das überhaupt lernen? Die sozialen Systeme, in denen man lebt, spielen natürlich auch eine Rolle im Lernprozess. Diese Systeme müssten sich etwa wieder neu einspielen, wenn ein Systemmitglied lesen und schreiben lernt. Es gibt also sehr gute Gründe, warum man auch nach 20 Jahren nicht mehr anfängt, etwas neu zu lernen: Um bestehende soziale Systeme zu erhalten. Denn der Mensch hat nicht nur individuelles Wachstum durch das Erlenen von Lesen und Schreiben als Ziel, es gibt auch immer ein „soziales Ich“, das sich gegen das Lernen entscheiden kann.

Also ist der gesamte Lernprozess von verschiedenen Faktoren beeinflusst. Und auch die individuelle Lernmotivation spielt eine Rolle?

Natürlich hängt auch die eigene Motivation mit dem Lernprozess zusammen.

Die eigene Lerneinstellung umfasst die erfahrungsbedingte Bewertung von Dingen. Wenn man also eine negative Erfahrung mit etwas gemacht hat, zum Beispiel mit dem eigenen Lernprozess, dann bewertet man diesen negativ. Die Lernhaltung ist allgemeiner, wenn man zum Beispiel Dinge vermeidet und bestimmte Aufgaben bewusst auslässt und nicht löst. Dann kann auch keine negative oder positive Erfahrung damit gemacht werden. Die Motivation und das gesamte soziale System hängen damit natürlich auch wieder zusammen. Denn Intelligenz spielt beim Lernen zwar eine wichtige Rolle, aber auch andere Faktoren, wie eine angemessene Förderung durch das Elternhaus in der Kindheit. Auch sehr intelligente Menschen können schriftunkundig sein.

Interessant! Wir sind der Meinung, dass Menschen auch durch das eigenständige Lesen und Zurücklegen von Lesekilometern ohne feste Zeiten immer sicherer werden können. Wie wichtig sind also Bücher in Leichter und Einfacher Sprache?

Ich finde die Arbeit, die der Spass am Lesen-Verlag macht, super. Es geht ja beim Problem der geringen Literalisierung nicht nur um die Kompetenzen Lesen und Schreiben, sondern auch um unterschiedliche Sprachregister wie einfaches Deutsch, Bildungssprache oder Fachsprache. Wenn zum Beispiel ein bildungssprachlich formulierter Text vereinfacht wird, ermöglicht man vielen Menschen einen Zugang zum Text.

Und wie können Bücher in Leichter und Einfacher Sprache den Lernprozess unterstützen?

Um das zu erklären, kann man zwei Annahmen zu unterschiedlichen Typen von Lesern aufstellen.

Man kann zum Beispiel von einem Leser ausgehen, der bestimmte Kompetenzen nicht hat diese Kompetenzen auch nicht mehr ausbilden wird. Dann sollten vereinfachte Texte genutzt werden, denn sonst hat diese Person keinen Zugang zu bestimmten Inhalten. Und das schafft der Spass am Lesen-Verlag: Inklusivität, sozusagen. Die hohen Hürden werden abgebaut: Man erwartet nicht, dass die Menschen höher springen können, sondern man baut die Hürden niedriger.

Und die zweite Annahme?

Dann gibt es auch die Annahme, dass ein Leser lernfähig ist und auch „über höhere Hürden“ springen kann. Trotzdem werden die Hürden zu Beginn niedriger gebaut und man hofft, dass die Kompetenzen sich weiterentwickeln und Hürden später höher gebaut werden können. Auch das ist beim Spass am Lesen-Verlag dank der verschiedenen Schwierigkeitsgrade bei den einzelnen Leselevels gegeben. Die Lesenden können sich so die Texte aussuchen, die zu ihnen passen. Hier spielt die Motivation eine wichtige Rolle.

Ich denke, der Name des Verlags ist deshalb genau richtig gewählt. „Spass am Lesen“. Denn es wird jedem Leser der Zugang zu Büchern ermöglicht und dadurch auch der Spaß am Lesen vermittelt.

Ob die Lesenden dann im weiteren Prozess den Spaß am Lesen auch aufrechterhalten können und sich auch an komplexere Texte trauen, das wird von anderen Faktoren bestimmt. Insgesamt ist Inklusion durch Bücher in Leichter und Einfacher Sprache aber sehr wichtig. Und die Chance, durch regelmäßiges Lesen auf den Geschmack zu kommen und so auch die Lust zu spüren, sich weiterbilden zu wollen. 

 

Vielen Dank für Ihre Zeit und das interessante Gespräch, Herr Feldmeier García!