03.02.25
Experteninterview mit Manuela Hantschel (BVL)


Frau Hantschel, Sie sind Diplom-Pädagogin, freiberufliche Lese- und Literaturpädagogin und bieten professionelle Fortbildungen zu Themen im Bereich der Leseförderung an. Sie sind seit 2017 Vorsitzende des Bundesverband Leseförderung e.V. (BVL). Der BVL setzt sich das Ziel, bundesweit die Weiterbildung für Lese- und Literaturpädagogik zu etablieren und so die Lesekompetenz von Kindern und Jugendlichen zu fördern.
Was kann man sich unter diesem Ziel genau vorstellen? Was sind Ihre Visionen?
Unsere Vision es, die Literaturpädagogik zu einem Berufsfeld zu machen, damit die Leseförderung in Deutschland mit Qualitätsstandards punkten kann. Wir fordern den Aufbau einer nachhaltigen Förderstruktur mit qualitätsvoller Leseförderung in multiprofessionellen Teams in Schulen, (Schul-) Bibliotheken und außerschulischen Einrichtungen. Das muss nicht nur politisches Bekenntnis, sondern politischer Wille sein. Denn wer liest, lernt verstehen. Wer versteht, kann Fragen stellen, wer Fragen stellt, kann Dinge verändern.
Das haben Sie gut auf den Punkt gebracht! Wie kann man sich die Zielgruppe des BVL vorstellen?
Leseförderung ist ein wichtiges Thema und sollte nicht einfach „nur“ als ehrenamtliche Verantwortung betrachtet werden: Eine professionelle Leseförderung kann gar nicht allein durch ehrenamtliche Arbeit geleistet werden. Wir vertreten die Interessen der Menschen, die in der Leseförderung arbeiten. Wir sind Netzwerk und Ansprechpartner für diese. Ich persönlich arbeite als freiberufliche Lese- und Literaturpädagogin für literarische Werksstätten, wie KiTas oder Schulen, und schule dort Multiplikator:innen. Leseförderung ist in allen Altersgruppen ein wichtiges Thema.
Warum spielt Leseförderung in allen Altersgruppen eine Rolle?
Vorlesen hat verschiedene Bedeutungen. Aber Vorlesen alleine macht aus Sicht der frühkindlichen Bildung kein Kind zum Leser. Ehrenamtliche Vorleser:innen kommen zum Beispiel einmal die Woche. Diese erreichen dann aber nur die Kinder, die mit Vorlesen etwas verbinden. Kinder, die damit nichts anfangen können, kommen gar nicht erst – und genau um diese Kinder geht es! Auch für Grundschüler:innen und ältere Kinder ist Vorlesen noch immer ein „Genuss“. Denn die Geschichten in Büchern bringen uns dazu, über den Tellerrand zu schauen. Lesen macht etwas mit unserem Empathie-Empfinden, unserem Verständnis von Demokratie und hilft dabei, sich in andere Situationen zu versetzen. Das macht Vorlesen für alle Altersgruppen wichtig.
Was kann man sich unter Leseförderung konkret vorstellen?
Leseförderung beginnt mit den ersten Lebensjahren und findet in Vorlesesituationen die besten Bedingungen, um Sprache und Denken zu fördern. In dialogisch geprägten Vorlesesituationen werden Kinder zum Sprachhandeln aufgefordert und entdecken im direkten Austausch mit Vorleser und Buch Anknüpfungen zur eigenen Lebenswirklichkeit. Medien wie Bücher sind dabei Vermittler zwischen Kind und Erwachsenem. Es werden konkrete Sprechanlässe über das Medium geschaffen, die den Wortschatz des Kindes erweitern. All das fördert Konzentration und Erkenntnisprozesse des Kindes schon in einem frühen Alter. Es ist eine Art „konstruktives Zusammensein“ und stärkt die „Literacy“-Fähigkeiten.
Sie sprechen von „Literacy“, was genau bedeutet dieser Begriff?
„Literacy“ umfasst die ersten Begegnungen des Menschen mit Schrift und Sprache. Das Kennenlernen von Reimen zum Beispiel. Der Moment, wenn ein Symbol- und Buchstabenverständnis entwickelt wird. „Literacy“ ist ein komplexer Begriff, für den man im Deutschen kein direktes Synonym finden kann.
Was sind grundlegende Herausforderungen, mit denen Sie im Bereich der Leseförderung heute zu kämpfen haben?
Sinkende Lesekompetenzen und schlechte Ergebnisse in PISA-Studien sind heute weniger ein Erkenntnisproblem. Diese Wissenslücken entstehen bereits durch Defizite in der Frühbildung. Das heißt: Die Stellschrauben sind im Elternhaus und in der KiTa, der Lernprozess beginnt schon vor dem Schuleintritt. Das bedeutet nicht, dass später keine Leseförderung mehr möglich ist. Aber Grundlagen werden schon früh gelegt und sind bei vielen Kindern nicht ausreichend vorhanden. So wird schon früh ein gelungener Schuleintritt und Bildungserwerb verhindert. Denn: Defizite in Fächern wie Mathe, Chemie oder Physik können auch durch mangelnde Lesekompetenzen entstehen. Umso niedriger der Wortschatz und die Kompetenzen der Kinder sind, die eingeschult werden, umso stärker werden die Probleme im weiteren Bildungserwerb. Wenn ich die Aufgaben nicht verstehe, kann ich sie auch nicht lösen!
Was würden Sie sich also für die Zukunft der Leseförderung in Deutschland von Seiten politischer Entscheidungsträger wünschen?
Wichtig ist: Wenn es keine verlässliche Struktur für die Leseförderung in der Zukunft gibt, werden sich die Lesekompetenzen auch nicht verbessern. Es müsste einmal definiert werden: Was sollten Kinder spätestens in der Vorschule an Fähigkeiten erlernt haben? Momentan kann jedes Bundesland selbst entscheiden, ob es Bildungsstandards in der Frühbildung einführt. Diese Strukturen werden nicht festgelegt, solange Leseförderung nur als „Nice-to-have“ im Sinne ehrenamtlicher Arbeit von Seiten der Politik verstanden wird. Da haben Sie recht! Dieser Handlungsbedarf wird momentan nicht gesehen… Im Moment gibt es ein „gegenseitiges Zuschieben vom Schwarzen Peter“: Lehrende in der Sekundarstufe sehen die Verantwortung bei den Grundschulen, diese wiederum sehen das Problem in den KiTas. Und die KiTas selbst merken, dass auch die Eltern eine Verantwortung mittragen. Das hilft uns aber nicht: Wir brauchen einen gemeinsamen Plan, um aktiv zu handeln, quasi einen „Notfallplan Bildung“. Ein weiteres Problem ist der Personalnotstand in KiTas. Selbst wenn es also in einem Bundesland einen Bildungsauftrag gäbe, könnte dieser gar nicht umgesetzt werden, weil das Personal fehlt. Es gibt also ein Handlungsproblem. Alle Materialien und Handlungsanweisungen sind da und müssten nur umgesetzt werden!
Sie sprechen davon, dass auch Eltern ihre Kinder unterstützen sollten. Wo liegen hier die Probleme?
Ich habe zum Beispiel vor kurzem Elternbegleiterinnen mit mehrsprachigem Hintergrund geschult. Die gehen dann in die KiTas und arbeiten mit den Kindern und ihren Eltern. Denn viele Familien aus anderen Kulturen haben ein anderes Verständnis vom Lesen lernen. Häufig wird geglaubt, dass dies Aufgabe der Schule oder KiTa sei. Das Vorlesen im Kindesalter durch die Eltern ist in anderen Kulturen oft nicht etabliert. Manchmal haben die Eltern selbst auch eine geringe Lesekompetenz und lesen aus diesem Grund ihren Kindern nicht vor. Dass es aber auch ein guter Anfang wäre, sich gemeinsam ein Bilderbuch anzuschauen und darüber zu reden, ist für viele überhaupt nicht vorstellbar. Dieses Verständnis muss erstmal hergestellt werden. Der Spaß am Lesen-Verlag setzt dann genau da an: Bei Jugendlichen und Erwachsenen, die keine umfassende Lesekompetenz erreicht haben. Und Bücher in Einfacher Sprache braucht es immer! Texte in Einfacher Sprache schaffen es, diesen Menschen ein Gefühl der Selbstwirksamkeit in ihrer Lesekompetenz zu vermitteln.
Da ziehen der BVL und der Spaß am Lesen-Verlag auf jeden Fall am gleichen Strang! Ab Januar 2025 gibt es ein neues Fortbildungsangebot vom BVL: „Literacy Kompakt“. Was darf man sich darunter vorstellen?
Dieses Angebot richtet sich primär an Erzieherinnen und Erzieher in KiTas, aber auch an Kinderpflegekräfte und Quereinsteiger:innen. Das Programm bildet Fachkräfte aus und soll kreative Vermittlungsmethoden bieten, etwa wie Sprachhandlungen der Kinder durch Bilderbücher angeregt werden können. Ich bin der Meinung, dass dieses Programm die Antwort sein könnte. Denn wenn es in jeder KiTa eine Literacy-Fachkraft gäbe, könnte diese als Multiplikator wirken.
Zum Abschluss würde mich noch interessieren: Was würden Sie sich als Buch in Einfacher Sprache wünschen?
„Sinn und Sinnlichkeit“ von Jane Austen, das fände ich spannend - auch wenn das natürlich eher Literatur für Frauen ist. (lacht)
Vielen Dank für Ihre Zeit und das interessante Gespräch, Frau Hantschel!
Foto © Hantschel Privat/Milena Schlosser