26.06.25

Experteninterview mit Sabine Adolph: Was bedeutet sprachliche Barrierefreiheit?

Barrierefreiheit wird häufig auf bauliche Maßnahmen reduziert. Aber das Wort „Barrierefreiheit“ bedeutet mehr als Rampen und Aufzüge. Denn was übersehen wird: Auch Sprache kann eine Hürde sein. Zum Beispiel für Menschen mit Lernschwierigkeiten, Demenz, geringer Lesekompetenz oder für Menschen, die gerade erst Deutsch lernen. Um echte Teilhabe zu ermöglichen, braucht es Sprache, die für alle verständlich ist, genauso wie Bücher. Und es braucht Orte, an denen diese Bücher selbstverständlich zu finden sind: Bibliotheken. Doch wie können Bibliotheken dazu beitragen, sprachliche Barrieren abzubauen? Und welche Maßnahmen braucht es dafür? 

Darüber haben wir mit Sabine Adolph, Bibliothekarische Referentin und Diözesanbibliothekarin der Erzdiözese München und Freising, gesprochen.

 

Frau Adolph, vielleicht können Sie zu Beginn einmal kurz erzählen: Was machen Sie im Rahmen Ihrer Position beim Michaelsbund? Worin bestehen Ihre Aufgaben?

Der Michaelsbund ist das katholische Medienhaus in Bayern. Als älteste bayerischer Büchereiverein beraten wir über 1000 Mitgliedsbüchereien in kirchlicher und kirchlich-kommunaler Trägerschaft bei der öffentlichen Literaturversorgung. Wir vermitteln kirchliche und staatlichen Fördermittel, bieten Aus -und Fortbildungsangebote und unterstütze die Büchereien in allen bibliothekarischen Tätigkeitsfeldern. Und wir schaffen Netzwerke zwischen Multiplikator:innen, zum Beispiel im Rahmen von Workshops für KiTas, Schulen, Verwaltungskräfte…

 

Das klingt spannend! Was verstehen Sie unter „sprachlicher Barrierefreiheit“?

Bei diesem Begriff muss man verstehen, dass Barrierefreiheit nicht nur die Sprachbarriere im Rahmen von Fremdsprachen meint. Auch Textbarrieren müssen berücksichtigt werden: Satzlänge, Layout, Fremdwörter. Denn auch Muttersprachler verstehen nicht jede behördliche Info-Broschüre. Und an dieser Stelle kommt Leichte und Einfache Sprache ins Spiel. Die Vorlese-Funktion von Webseiten hat bei komplizierten Sätzen beispielsweise keinen Effekt. Die Inhaltsebene der Sätze wird trotzdem nicht verstanden. Das ist dann keine Barrierefreiheit. Das Bewusstsein für dieses Thema muss immer wieder neu geschaffen werden.

 

Genau! Leichte und Einfache Sprache ist also auch für Bibliotheken wichtig. Was denken Sie, ab wann wurde das Thema Leichte Sprache auch für Büchereien interessant?

Dieser Prozess hat gestartet, als 2015 sogenannte „Asylotheken“ entstanden mit einem speziellen Buchangebot für Flüchtende und Asylsuchende. Diese Menschen haben dann aber mit dem Spracherwerb begonnen – und ab dann wurde Leichte, deutsche Sprache relevant. Und mit der Zeit wurde deutlich: Das Problem der geringen Literalisierung gibt es nicht nur im Rahmen von Migrationsbewegungen! Die Zielgruppe ist viel größer: Sie reicht von älteren Menschen mit beginnender Demenz und geringe rKonzentrationsspanne, über Kinder, die den Lese-Erwerb in der Grundschule nicht schaffen, bis hin zu leseungeübten Jugendlichen und vielen weiteren Lesebehinderungen, die beispielsweise auch durch Krankheiten verursacht werden.

 

Trotzdem bemerken wir, dass Bücher in Einfacher Sprache noch immer nicht im Bewusstsein und Bestand von allen Bibliotheken angekommen sind. Finden Sie, dass Bücher in Einfacher Sprache sichtbarer Teil des Bestandes in Bibliotheken sein sollten? Wenn ja: Wie kann das erreicht werden?

Auf jeden Fall! Die Auffindbarkeit der Bücher ist natürlich essenziell, um für das Thema zu sensibilisieren. Am wichtigsten ist dabei: Die Bücher müssen aus der „Seniorenteller-Ecke“ rauskommen! Denn die „Verpackung“ und das Wording machen viel aus: „Leicht zu Lesen“ oder „Spaß am Lesen“ – wie Ihr Verlag – konnotieren das Thema gleich positiv. Das war damals mit Hörbüchern genauso. Als das Produkt sich aus der „Handicap-Nische“ heraus mehr und mehr etabliert hat, wurde das Hörbuch erst zum Erfolg.

Explizite Ecken mit Lesestoff in Einfacher Sprache sind da nicht immer die Lösung: Die Bücher sollten so stehen, dass sie sich gleichzeitig auch gut in den Bestand der „normalen“ Bücher einfügen. Die Bücher haben ja einen relativ dünnen Buchrücken und dürfen deshalb nicht im Regal zwischen dickeren Büchern verschwinden. Das Regal sollte aber zwischen allen anderen stehen, sodass die Suchenden sich trotzdem mitten im Geschehen befinden. Quasi nebeneinander, aber doch getrennt.

 

Interessant! Wie genau meinen Sie das?

Nehmen wir zum Beispiel einen Krimi-Leser. Der sucht nach einem bestimmten Inhalt und geht zu den Krimis. Wenn es dann neben „normalen“ Krimis auch solche in Einfacher Sprache gibt, fügen diese sich unauffällig in das Buchsortiment ein. Auch bei Buchtipps von Seiten der Bibliothekarinnen darf es mal ein Buch in Einfacher Sprache sein. Diese Bücher sind ein Angebot, wie jedes andere auch.

Aber es gibt natürlich nicht DIE Lösung für dieses Problem. Man muss immer wieder nachjustieren und für jede Bibliothek und deren Bedingungen individuell planen. Für die optimale Vermittlung von Titeln ist aber auch die Aufmachung der Bücher extrem wichtig. Und an dieser Stelle kommen dann die Verlage ins Spiel…

 

Also auch wir! Was erwarten Sie von Büchern in Leichter und Einfacher Sprache?

Vor allem altersgerechte Themen sind wichtig. Die Lebenswelt und Erfahrungen von jungen Menschen müssen zum Beispiel thematisiert werden. Das geht ja auch in Einfacher Sprache. Nur so kann Lesefreude, Motivation und schlussendlich die Lesefähigkeit vermittelt werden. Dabei ist auch die Covergestaltung wichtig: Nicht zu kindlich, sondern ansprechend.

Und viele Bilder ersetzen nicht die Wichtigkeit von Einfacher Sprache. Denn Sprache bietet einen anderen Zugang zum Inhalt als Illustrationen. Ein weiterer wichtiger Vorteil ist auch das Gewicht der Bücher: Fingerfertigkeit, Umblättern, schwere Bücher halten können – all das wird für ältere Menschen schwieriger. Bücher in Einfacher Sprache bieten hier die Möglichkeit, das immer noch zu schaffen. Und nicht für alle sind E-Books die Lösung, denn das „Buch-Gefühl“ ist auch gefragt.


Müsste sich auch etwas auf politischer Ebene verändern, damit sprachliche Barrierefreiheit selbstverständlich mitgedacht wird?

Gesellschaftliche Teilhabe durch sprachliche Barrierefreiheit ist natürlich immer ausbaufähig. Im bibliothekarischen Bereich ist das Thema Finanznot sehr aktuell. Dabei ist Lesen sehr wichtig und leistet einen wichtigen Beitrag für das gesellschaftliche Miteinander: Es ermöglicht Informationskompetenz und gilt als Schlüsselkompetenz für die Mediennutzung. Die Vermittlung von Lesekompetenz ist also essenziell für unsere Gesellschaft. Das Gesetz zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen schafft zwar einen ersten Rahmen, dieser muss aber auch konkret ausgefüllt werden! Ich habe den Eindruck: Insgesamt ist das Bewusstsein für barrierefreie, verständliche Kommunikation gewachsen, aber noch immer langsam und leise. Dabei ist die LEO-Studie mehr, als nur ein Warnruf – es muss mehr passieren!

 

Das stimmt! Was können Büchereien also konkret leisten?

Büchereien können ganz viel – oder besser gesagt Sie könnten für das Thema Barrierefreiheit sensibilisieren und Menschen schulen, die Mitarbeiter:innen innerhalb sowie auch durch Kommunikation nach außen nach außen. Es gilt, ein Bewusstsein für Barrieren zu schaffen. Und natürlich dafür, dass leseschwache Menschen diese Orte eigentlich gar nicht aufsuchen. Aber schon die Kommunikation nach außen kann ein Schlüssel dafür sein, dass leseschwache Menschen sich doch in Büchereien trauen. Wichtig ist es auch, Multiplikatoren wie den Schulen Literatur anzubieten, die wiederum an Lehrkräfte weitervermittelt werden kann. Ein Bewusstsein mit dem eigenen Angebot und der Kommunikation schaffen. Eine weitere Idee: Lektüre in Leichter Sprache kann auch gut in den Bibliotheken vorgelesen werden. Das schafft eine Bühne und Aufmerksamkeit für das Thema.


Vielen Dank für Ihre Zeit und das interessante Gespräch, Frau Adolph!