18.08.22

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Nachruf Jürgen Genuneit

Von Marion Döbert

„Wenn ich einmal sterbe, dann sollst du die Rede an meinem Grab halten. Aber vorher mache ich noch die Redaktion der Rede.“ Das sagte mir Jürgen Genuneit, der die Alphabetisierung und Grundbildung in Deutschland mit seinen Gedanken, Publikationen, Reden, Fortbildungen und Lehraufträgen sowie Aktionen zur Öffentlichkeitsarbeit wesentlich mitgeprägt hat. Jedes Mal haben wir gelacht, wenn wir über die Abschiedsrede sprachen.

Am 26. Oktober 1943 wird Jürgen Genuneit als ein Zwillingskind in seiner geliebten Stadt Hamburg geboren. Die Kriegs- und Nachkriegszeit wirft einen nie gänzlich vergehenden Schatten auf seine Kindheit. Enge und Angst in Luftschutzbunkern bleiben für ihn ein Leben lang unvergesslich. Der Nationalsozialismus wird zu einem wichtigen Thema in seiner späteren aufklärenden und widerständigen Arbeit, auch in seinen umfangreichen wissenschaftlichen Recherchen zu den Ursachen und Hintergründen. Jürgen Genuneit studiert Deutsch, Geschichte und Pädagogik in Hamburg, Tübingen und Bordeaux. Er absolviert die wissenschaftliche Prüfung für das Lehramt. Er unterrichtet Deutsch als Fremdsprache, bis er von 1979 bis 2006 als Verlagsredakteur beim Ernst Klett-Verlag in Stuttgart arbeitet. Wichtige Lehrwerke wie Sprachbrücke und Deutsch Klasse entstehen unter seiner Redaktion, und ab 1989 engagiert er sich in und außerhalb des Verlags in der Alphabetisierung und Grundbildung für funktionale Analphabeten in Deutschland. Für vorbildliches Engagement in der Leseförderung verleiht ihm die Stiftung Lesen die Mainzer Auslese September 1994 und den Jahrespreis Mainzer Auslese 1995.

Jürgen Genuneit gründet den Bundesverband Alphabetisierung und Grundbildung e.V. (BVAG) mit und ist von 1997 bis 2011 Mitglied des Vorstandes. Prägend für seine Arbeit und sein Engagement sind der Blick über den Tellerrand, seine Streitbarkeit und Diplomatie, sein unerbittliches Eintreten für die Rechte der Lernerinnen und Lerner, sein hintersinniger Humor, sein bildungspolitisches Engagement und vor allem sein unschätzbar wertvolles Wissen.

Jürgen Genuneit hat die Alphabetisierung und Grundbildung von Anfang an in einen breiten Kontext gestellt und damit das Wirkgefüge von geringer Literalität in alle Lebensbereiche hinein deutlich gemacht. In seinen Vorträgen und Publikationen befasst er sich mit Analphabetismus in der Geschichte, in der Literatur, in Spielfilmen und Karikaturen, auf Plakaten und Briefmarken. Dadurch schärft er immer wieder den Blick auf die Alphabetisierung über den rein pädagogischen Kontext hinaus. Sein kulturpolitischer Ansatz schlägt sich in der internationalen Wanderausstellung „Die Welten der Wörter – Worlds of Words – Monde des Mots“ nieder, die er als Klett-Redakteur in Zusammenarbeit mit dem UNESCO-Institut in Hamburg entwickelt. Zusammenarbeit ist ein wichtiges Arbeitsmotto für Jürgen Genuneit, der im Rahmen der Fachtagungen zur Alphabetisierung und Grundbildung seine Netzwerke mit einbringt und in seiner Arbeit ungewöhnliche Themen, Akteure und Orte miteinander verbindet, seien es Heidi von der Alm, Tarzan oder eine Bodypainterin. Seine Ideen prägen aufsehenerregende Aktionen im Rahmen von Buchmessen und Weltalphabetisierungstagen. Nie ist er sich zu schade, vor Ort mit anzupacken, so wie als historischer Stadtschreiber auf dem Wochenmarkt in Bielefeld.

Ab 2007 arbeitet Jürgen Genuneit als freiberuflicher Mitarbeiter für den Klett-Verlag und intensiviert sein Engagement im BVAG sowie als freiberuflicher Journalist. In wissenschaftlichen Projektbeiräten vertritt er die Interessen des Bundesverbandes wie in dem Projekt „Archiv und Dokumentationszentrum für Alphabetisierung und Grundbildung" (ADAG) und im Projekt „APOLL: Alfa Portal Literacy Learning“, der ersten Online-Lernplattform für funktionale Analphabeten. Im Jahr 2000 erhält Jürgen Genuneit für seine Verdienste das Bundesverdienstkreuz am Bande, und am 7. September 2012 wird er vom Bundesverband zum „Botschafter für Alphabetisierung“ ausgezeichnet.

Alphabetisierung und Grundbildung gehen auch in sein privates Leben ein. Auf einer der Fachtagungen des BVAG lernt er die Alphabetisierungsexpertin Annerose Müller kennen, und 2006 geben sich beide ihr Ja-Wort. Zusammen engagieren sie sich intensiv für die Alphabetisierung und Grundbildung in den neuen Bundesländern.

Ab 2013 arbeitet Jürgen Genuneit als freiberuflicher Redakteur für den Spaß am Lesen-Verlag in Münster, der Literatur in Einfacher Sprache publiziert. Anfangs redigiert er die Bücher zusammen mit seiner Frau, der die Arbeit am Computer leichter fällt. Nach dem Tod von Annerose Genuneit im Jahr 2017 übernimmt er ihren Part und „fuchst sich“ in die Arbeit am PC ein. Seine Voraussetzungen für die Redaktion von Literatur in Einfacher Sprache sind optimal, denn er ist einer der ersten, der Kriterien für verständliche Sprache erarbeitet. Vor allem geht auch sein fundiertes historisches und politisches Wissen in die Redaktion der Bücher mit ein. Auf diese Weise setzt er sein Engagement gegen Gewalt, Diktatur, Unterdrückung und gesellschaftliche Benachteiligung weiter um. Dieses Engagement ist ihm Zeit seines Lebens ein Herzensanliegen und schlägt sich in nahezu allen seinen Publikationen nieder. Seinen letzten Beitrag für die Fachzeitschrift des BVAG, das ALFA-FORUM, schreibt er noch für die 100. Ausgabe 2021: „Schachmatt? Analphabetismus, Alphabetisierung und Schach“.

Zu der Zeit lebt Jürgen Genuneit schon seit mehreren Jahren in einem Seniorenheim in Neu-Ulm. Dort hilft er Pflegekräften beim Deutschlernen, korrigiert ihre Pflegeberichte und versorgt sie mit Literatur in Einfacher Sprache, damit sie ihre Sprachkenntnisse verbessern und ganze Bücher lesen können. Seine große Hilfsbereitschaft und Förderung junger Menschen hat er in früheren Jahren schon Doktoranden zugute kommen lassen, deren Dissertationen er akribisch begleitet und korrigiert hat. Seine Recherchen und Daten zum Nationalsozialismus hat er vor einiger Zeit historisch Forschenden zur Verfügung gestellt und überlassen.

Gerne hätte Jürgen Genuneit noch die Buchredaktion für den Roman Ich singe um mein Leben über Edith Piaf gemacht. Seine Krankheit hat dieses Vorhaben vereitelt. Im Juni 2022 schafft er noch mit letzter Kraft die Redaktion von zwei Erzählungen von Theodor Storm in Einfacher Sprache. Dann nimmt die Parkinson-Krankheit, unter der er seit vielen Jahren leidet, ihm vollends auch diese Kraft.

„Nein, keine Rede!“ Das sagt mir Jürgen Genuneit am 2. August 2022 am Telefon. Als ich ihn frage, ob ich denn seine Zeitgenossen, Mitstreiter und Freunde aus der Alphabetisierung und Grundbildung nach seinem Versterben benachrichtigen soll, sagt er sehr klar: „Ja.“ Zwei Tage später, am 04. August 2022 schläft Jürgen Genuneit in Ruhe und Frieden ein. Im Oktober wäre er 79 Jahre alt geworden. Aber er wollte und konnte nicht mehr.

Danke, Jürgen, für alles!


Bild mit freundlicher Genehmigung: Marion Döbert.